Kurze Worte | Kurze Worte | 43
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Zweite Ermahnung: Oh meine Seele, die du dem Bauch dienst! Du ißt Tag für Tag Brot, trinkst Wasser, atmest Luft ein. Macht das nicht überdrüssig? Sicherlich nicht; denn in dem ständig wiederkehrenden Bedürfnis danach bekommst du nicht Überdruß, sondern Appetit.

Wenn das aber so ist, dann kann auch das Gebet, das für die Freunde in deinem Hause, welche mein Körper ist, nämlich für mein Herz eine Labsal, für meinen Geist das Wasser des Lebens und für die Blumen des Herrn (= die feineren Sinnesorgane der Seele) gleich einer Liebkosung des Windes ist, der durch das Gebet angezogen, herbeigelockt wird, niemals zur Langeweile führen. In der Tat kann ein Herz, das von grenzenlosem Kummer und Schmerz heimgesucht und geplagt, zahllosen Genüssen verfallen und von unendlichen Hoffnungen umschmeichelt ist, nur dann mit der notwendigen Kraft und Ausdauer versorgt werden, wenn es in flehentlichem Gebet an die Pforte des Freigebigen und Allbarmherzigen pocht, der da aller Dinge mächtig ist. Ja, in dieser vergänglichen Welt, durch die die Seele (ruh) so schnell hindurcheilt, Weh!-schreiend ob der Trennung von all den Dingen und Geschöpfen, mit denen sie doch in Beziehung steht, kann der Durst nur mit dem Wasser des Lebens aus dem Brunnen der Barmherzigkeit gestillt werden, wenn sich die Seele im Gebet dem Ewig-Angebeteten (Ma’bud-u Baki) und Immerdar-Geliebten (Mahbub-u Sermedi) zuwendet, der alle Dinge übertrifft. Ja, die bewußte meditative Wahrnehmung des Menschen (syrr-y insani) und die lichterfüllten Blumen des Herrn (latife-i Rabbaniye), die sich von Natur aus nach Ewigkeit sehnen und für die Ewigkeit erschaffen wurden, die ein Spiegel des Herrn (Zat) von Ewigkeit zu Ewigkeit und so äußerst fein und empfindsam sind, bedürfen unter den kummervollen, zermürbenden, beklemmenden, vergänglichen, finsteren und bedrückenden Ereignissen dieses Lebens ganz besonders eines beständigen Atemholens und nur durch das Fenster des Gebetes vermögen sie eine solche Liebkosung zu empfangen.

Dritte Ermahnung: Oh meine ungeduldige Seele! Du denkst noch heute darüber nach, wie du dich in vergangenen Tagen darum bemüht hast, Gott zu dienen (ibadet), wie du dich angestrengt hast, dein Gebet zu verrichten, wie du dich wegen deines Unglücks geplagt hast und du machst dir darüber Sorgen. Desgleichen stellst du dir die Aufgabe künftigen Gottesdienstes (ibadet), die Verpflichtung zum Gebet und das Leiden an einem kommenden Unglück schon heute vor und zeigst dich ungeduldig. Aber ist das denn überhaupt sinnvoll? In deiner Ungeduld gleichst du einem Kommandanten, der sich in seiner Verwirrung so verhält, daß er seine eigene Kampfkraft in der Mitte schwächt, indem er eine starke Streitmacht zum rechten Flügel befiehlt, obwohl der rechte Flügel der feindlichen Streitmacht bereits zum rechten Flügel der eigenen Streitmacht übergelaufen ist. Obwohl also nun der linke Flügel des Feindes von Soldaten entblößt ist, schickt er eine starke Streitmacht dorthin,wo doch gar niemand angelangt ist und befiehlt:« Feuer!» So sind seine eigenen Streitkräfte aus der Mitte ganz und gar abgezogen. Der Feind erfaßt die Lage, greift in der Mitte an und stiftet dort heillose Verwirrung. Du gleichst ihm in der Tat. Denn die Anstrengungen der vergangenen Tage sind heute in Barmherzigkeit verwandelt worden. Schmerz ist vergangen; Freude ist geblieben. Plage hat mit (Gottes) Gnadengabe einen Bund geschlossen; Anstrengung verwandelte sich in Belohnung. Wenn das aber so ist, dann darfst du über all dem nicht Überdruß und Langeweile empfinden, vielmehr eine neue Begeisterung, eine wiedererwachte Freude in dir verspüren, die dich kräftig dazu anspornt, weiterzumachen.

kein Ton