Kurze Worte | Kurze Worte | 25
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Sich umschauend erblickte er einen schrecklichen Löwen, der hinter einem Gebüsch hervor zum Sprung ansetzte. Rasch floh der Mann vor dem Löwen davon, fand eine sechzig Ellen tiefe, ausgetrocknete Zisterne und stürzte sich in seiner Angst hinein. Als er schon halb hinuntergefallen war, fand er einen Baum, der seinen Sturz auffing. Dieser Baum klammerte sich mit zwei schon morsch gewordenen Wurzeln in der Wand der Zisterne fest. In diesen hatten sich zwei Mäuse verbissen, die eine weiß, die andere schwarz, und zernagten sie. Als der Mann seinen Blick nach oben wandte, sah er dort den Löwen einem Wächter gleich auf der Mauer sitzend warten. Nach unten blickend gewahrte er in der Tiefe einen abscheulichen Drachen. Er hatte das Haupt gegen ihn erhoben und reckte den Hals nach,seinen Füßen, die dreißig Ellen über dem Abgrund baumelten. Sein Rachen war ebenso groß wie der Schacht der Zisterne selbst. Und auch als er die Schachtwandt betrachtete, erblickte er rings umher allerlei Schmarotzer und eine Menge Ungeziefer. Nun wandte er seine Aufmerksamkeit der Krone des Baumes zu und sah, daß es ein Feigenbaum war. Doch - oh Wunder - der Baum trug sehr viele verschiedene Früchte. Nüsse und Granatäpfel hingen in seiner Krone.

Doch all das betrachtete dieser Mann in seinem Unverstand völlig falsch. Er erkannte nicht, daß es sich dabei um keine gewöhnlichen Dinge handeln konnte. Es konnte nicht Werk des Zufalls sein. In all diesen seltsamen Dingen verbargen sich ihre besonderen Geheimnisse. Doch er konnte ihnen nicht entnehmen, daß hinter allen der Allwirkende steht. So begann er denn von den Früchten dieses Baumes zu essen, ungerührt von dem verborgenen Aufschrei über seine leidvolle Lage und der Klage in seinem Sinn, Herz und Verstand, weil seine eigenwillige Seele (nefs-i emmare), so als sei dies alles nicht vorhanden, sich über dem Weinen seines Herzens und seiner Seele mit den Fingern die Ohren verstopfte, und indem sie sich selbst betrog, so tat, als befände sie sich inmitten eines Gartens. Doch einige dieser Früchte waren gar nicht gesund, ja sogar giftig. In einer Hadis-i Kudsi (= der Prophet verkündet das Wort Gottes mit seinen eigenen Worten - d.Ü.) hat uns Gott der Gerechte geoffenbart:

Das heißt: «Ich behandle meinen Diener so, wie ich von ihm erkannt bin.» So hielt denn dieser unglückselige Mensch, was er erblickte und in seinem Unverstand fälschlich beurteilte, für eine einfache und offensichtliche Tatsache. Und in dieser Weise erlebte er auch das Geschehnis, erlebt es noch und wird es auch weiter so erfahren... So konnte er weder sterben, so daß er von seinem Leiden befreit würde, noch vermag er zu leben. Solitt er unter seiner Qual. Wir aber wollen, während wir diesen Unglückseligen seiner Strafe überlassen, zurückkehren und wollen sehen, wie es dem anderen Bruder inzwischen ergangen ist.

kein Ton