Kurze Worte | Kurze Worte | 48
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Darum sehnt sich dieser Mann nach Istanbul, denkt daran, möchte zu seinen Freunden gelangen. Wann immer man zu ihm sagen wird: «Gehe dorthin!» wird er mit einem frohen Lächeln hinübergehen. Was aber den anderen Mann betrifft, so sind von hundert seiner Freunde neunundneunzig weggegangen. Ein Teil von ihnen ist zugrunde gegangen. Ein anderer Teil von ihnen ist in unbekannten Gegenden untergetaucht und die Verbindung zu ihnen ist abgebrochen. Er hält sie alle für verschollen und denkt, daß sie ihr Ende gefunden haben. Dieser bedauernswerte Mann hält an Stelle all dieser die Freundschaft nur noch mit einem einzigen Gast aufrecht und versucht sich mit ihm zu trösten. Mit ihm versucht er den Kummer und Gram über die Trennung zu überdecken.

Oh Seele! Alle deine Freunde, ihnen allen voran der Geliebte Gottes, befinden sich auf der anderen Seite des Grabes. Die ein, zwei restlichen, die noch übrig geblieben sind, werden auch noch dahin gehen. Schrecke vor dem Tode nicht zurück, fürchte dich nicht vor dem Grab und wende dich nicht ab! Ermanne dich, sieh und höre, was das Grab von dir fordert! Lache dem Tod mannhaft ins Gesicht und siehe, was er wünscht! Hüte dich davor, dem zweiten Mann in seiner Gottvergessenheit zu gleichen!

Oh Seele! Sage nicht: «Die Zeit hat sich geändert, die heutigen Anschauungen sind ganz anders geworden. Jedermann ist den irdischen Dingen verhaftet. Ein jeder betet das Leben an, hat den Kopf voll von Sorgen um das tägliche Brot.» Denn der Tod ändert sich nicht. Trennung verwandelt sich nicht in Beständigkeit und wird nicht ausgetauscht. Die Schwächen der Menschheit und die Armseligkeit der Erdenbürger wird nicht aufgehoben, vermehrt sich vielmehr noch. Die Reise des Menschen wird nicht abgebrochen, sondern beschleunigt.

Und sage nicht: «Auch bin ich wie jeder andere.» Denn jeder verleiht dir seine Kameradschaft nur bis ans Tor des Grabes. Der Trost, mit jedem im Unglück zusammen zu sein, hat jenseits des Grabes keinen Wert.

Glaube aber auch nicht, du wärest dir selber überlassen! Denn wenn du das Gasthaus dieser Welt mit den Augen der Weisheit betrachtest, so wirst du sehen, daß nichts darin ohne einen Sinn und Zweck ist. Wie aber könnte dann dein Leben ohne Sinn und Zweck sein? Auch Ereignisse wie ein Erdbeben oder andere Naturkatastrophen sind nicht Spielzeug des Zufalls.

kein Ton