Brief | Zwanzigster Brief | 339
(300-352)

Und ein reflektierender Körper von der Größe eines Fingernagels in der äußerlichen Welt nimmt auf der Ebene der Gleichnisse (und der Spiegelungen die Größe) einer riesigen Stadt in sich auf. Hätten der Spiegel in dieser unserer äußerlichen Welt und unser Erinnerungsvermögen ein Bewusstsein und schöpferische Kräfte, so könnten sie in dem gleichnishaften Sein (der gespiegelten Welt) und im Dasein der Bedeutungen (als dem Wesen all unserer Gedanken, Ideen und Vorstellungen) aus der Kraft dieses unseres äußerlichen Daseins unendlich viele Handlungen und Wandlungen zustande bringen. Das heißt: je mehr das Sein an Tiefe und Umfang zunimmt, desto mehr wächst auch seine Kraft. Eine kleine Sache (z.B. ein mit Bewusstsein begabter Spiegel) vermag (z.B. auf eine Stadt, die er in sich aufnimmt) einen entscheidenden Einfluss auszuüben. Besonders dann, wenn das Sein (endlich auf seiner höchsten Stufe, wo) es am tiefsten, fest verankert ist, von aller Materie befreit und keiner Beschränkung mehr unterworfen ist, kann ein winzig kleines Aufleuchten viele Welten auf einer anderen, schwächeren Ebene des Seins, verwandeln.


»Und Gottes sind die erhabensten Gleichnisse.« (Sure 16, 60)

So ist denn der Schöpfer des Alls in Seiner Majestät der NotwendigSeiende. Das heißt: in Ihm ist das Sein essentiell, ohne Anfang, ohne Ende. NichtSein ist für Ihn unmöglich. Bei Ihm ist ein Untergang (gleich dem, der Gestirne) unvorstellbar und die Ebene des Seins am tiefsten, unendlich, unwandelbar, stark, ursprünglich und vollkommen. Das Sein aller anderen Ebenen gleicht neben Seiner eigenen Seinsebene nur einem sehr schwachen Schatten. Wo das Sein in Seiner Notwendigkeit (Vudjudu Vadjib) so tief und so beständig und so wahr ist, und daneben das Sein in seiner Möglichkeitsform (vudjudu mumkinat) so schwach und vergänglich, dass Forscher und Kenner der Wahrheit wie Muhyiddini Arabi alle übrigen Ebenen des Seins als eine Stufe bloßer Vorstellungen und Träume behandelt haben.


»Es gibt kein Sein außer Ihm.«

sagten sie. Denn: man darf nicht sagen, dass es neben dem NotwendigSeienden noch ein Sein für andere Dinge gebe. Sie urteilten, dass sie es nicht würdig seien, mit dem Titel »Sein« bezeichnet zu werden.

So ist denn in der Kraft (qudret) des NotwendigSeienden, die zugleich notwendig als auch wesensgemäß ist, ein Dasein, das nur aus dem Sein entstanden und Ihm allein hinzugefügt ist, Wesen in einer (Welt des) Möglichen, die sowohl unbeständig als auch machtlos ist, mit Sicherheit unendlich einfach und leicht (zu erschaffen usw.). Alle Seelen am Gewaltigen (Tag der) Wiederversammlung ins Leben zu rufen und vor Gericht zu stellen ist ebenso leicht, wie die Auferstehung und Wiederversammlung der Blätter, Blüten und Früchte an einem Baum, ja sogar im ganzen Garten, ja selbst in einem Frühling insgesamt.

kein Ton