Brief | Zweiundzwanzigster Brief | 372
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Gier ist eine Quelle der Erniedrigung und des Schadens. Es gibt so viele Geschehnisse, wo ein habgieriger Mensch allzeit Schaden genommen hat, dass der Satz

»Der Habgierige hat das Elend und den Schaden.«

schon zum Sprichwort geworden ist und in den Augen der Allgemeinheit eine Wahrheit darstellt, die auch allgemein akzeptiert wird. Da dies aber nun einmal so ist, strebe nach den Gütern nicht mit Leidenschaft und Habgier, sondern in Bescheidenheit, damit die Güter, die du so liebst, in Fülle zu dir kommen.

Die Leute der Anspruchslosigkeit und die Leute der Gier sind zwei Personen vergleichbar, die in das Gästehaus einer bedeutenden Persönlichkeit eintreten. Der erste spricht in seinem Herzen: »Wenn er mich nur aufnimmt und ich der Kälte da draußen entrinnen kann, so genügt mir das. Selbst wenn man mir nur den geringsten Platz anbietet, so ist es doch noch eine Freundlichkeit.«

Der zweite Mann aber sagt sich in seinem Stolz, so als habe er ein Recht erhalten und als ob jedermann dazu verpflichtet sei, ihm Ehre zu erweisen: »Mir muss er den obersten Platz einräumen.« Mit diesem Anspruch tritt er ein, heftet seine Augen auf den obersten Platz und strebt auf ihn zu. Doch der Herr des Hauses holt ihn zurück und weist ihm einen Platz weiter unten an. Wo er doch hätte dankbar sein sollen, ist er ihm nun von Herzen gram. Statt ihm zu danken, beschwert er sich im Gegenteil noch über den Hausherrn. So fällt er bei dem Herrn des Hauses in Ungnade.

Der erste Mann tritt mit Bescheidenheit ein. Er möchte an unterster Stelle sitzen. Diese seine Bescheidenheit ist dem Herrn des Hauses wohlgefällig. »Nehmen Sie doch bitte weiter oben Platz!« sagt er deshalb. So wächst seine Dankbarkeit ständig und seine Zufriedenheit vertieft sich noch.

So ist auch diese Welt gleich einem Gasthaus des Allerbarmers. Das Antlitz der Erde gleicht einem Tisch der Barmherzigkeit. Die verschiedenen Grade in der Versorgung und die unterschiedlichen Stufen in den Gnadengaben gleichen den Plätzen an der Tafel.

Zudem kann jeder selbst in den kleinsten Dingen die üblen Auswirkungen der Habgier verspüren.

kein Ton