Brief | Zweiundzwanzigster Brief | 375
(357-380)

Das erste: »Wenn ich satt geworden bin und ein anderer stürbe vor Hunger, was geht mich das dann an?«

Das zweite: »Arbeite du, ich werde essen.«

Was diesen zwei Worten ihre Dauer verleiht, ist der immerwährende Strom der Zinsen und die Aufgabe der Almosenspende. Der einzige Weg, diese beiden fürchterlichen Krankheiten des gesellschaftlichen Lebens zu heilen, besteht darin, Almosen als ein allgemein gültiges Prinzip einzuführen, also die absolute Notwendigkeit des Almosengebens und das Verbot des Zinsnehmens. Zudem ist Almosen nicht nur für bestimmte Einzelindividuen oder besondere Gesellschaftsformen, sondern für das Lebensglück der gesamten Menschheit ein bedeutender Stützpfeiler, ja für den Fortbestand der Menschheit die wichtigste Säule überhaupt. Denn in der Menschheit gibt es als die beiden Klassen eine Oberschicht und eine Unterschicht. Was die Oberschicht dazu veranlasst, sich der Unterschicht in Güte und Barmherzigkeit zuzuwenden, der Unterschicht aber, der Oberschicht Ehrerbietung und Gehorsam entgegenzubringen, das ist Almosen. Anderenfalls ergießt sich von oben auf die Unterschicht herab Ungerechtigkeit und Unterdrückung; aus der Unterschicht reckt sich den Reichen Hass und Aufruhr entgegen. Diese beiden Schichten der Menschheit liegen in einem ständigen unsichtbaren Zwist miteinander, einem Zustand ratloser Verwirrung. Das führt schließlich dazu, dass sich, wie dies in Russland bereits geschehen ist, (die Menschen) infolge eines Kampfes zwischen Kapital und Arbeit an die Kehle gehen...

Oh ihr Leute des Edelmutes und des guten Gewissens! Und auch ihr Leute der Freigiebigkeit und Güte!

Wenn Wohltaten nicht im Sinne eines Almosens gespendet werden, so entsteht ein dreifacher Schaden. Manchmal erweisen sie sich als nutzlos. Denn wer nicht um Allahs willen gibt, legt (den anderen) unausgesprochen eine Verpflichtung auf. Der bedauernswerte Arme gerät in die Fesseln der Dankbarkeit. So gehst du seiner hochgeschätzten Fürbitte verlustig. Wenn nun auch noch du, der du doch in Wahrheit die Stellung eines Beamten inne hast, der von Gott dem Gerechten dazu beauftragt worden ist Seine Güter an Seine Diener und Anbeter weiterzureichen, dich selbst als Herrn und Eigentümer betrachtest, so verleugnest du in Undankbarkeit Seine Gnadengaben. Wenn du aber im Sinne eines Almosens gibst, so wirst du eine Belohnung erhalten, weil du im Namen Gottes des Gerechten gibst und bringst so deine Dankbarkeit in Anerkennung der Gnadengaben Gottes zum Ausdruck. Wenn dieser bedürftige Mann nun also nicht dazu gezwungen ist, vor dir zu kriechen, so bleibt sein Selbstwertgefühl ungebrochen und seine Fürbitte um deinetwillen ist hochgeschätzt.

kein Ton