Brief | Sechsundzwanzigster Brief | 455
(427-475)

In der Tat ist, wer sich selbst gefällt und auf sich selbst vertraut, ein unglückseliger Mensch. Doch wer die Fehlerhaftigkeit seiner Seele erkennt, ist ein glücklicher Mensch. So gehörst du also zu den Glücklichen. Doch manchmal geschieht es, dass die eigenwillige Seele sich in eine klagende Seele oder eine ruhige Seele verwandelt, doch dabei Waffen und Ausrüstung an die Nerven weiter gibt. Diese Adern und Nerven aber setzen ihre Aufgabe noch bis zum Ende des Lebens fort. Und obwohl die eigenwillige Seele schon längst gestorben ist, bleiben ihre Spuren dennoch weiterhin sichtbar. Es gibt große Heilige und Gelehrte, die sich über ihre eigenwillige Seele beklagen, wo ihre Seele doch längst schon zur Ruhe gekommen war. Obwohl ihre Herzen längst von Ruhe und Frieden erfüllt waren, klagten sie noch immer über die Qual ihres Herzens. So handelt es sich also bei solchen Persönlichkeiten nicht um ihre eigenwillige Seele, sondern um eine Funktion, welche diese eigenwillige Seele auf die Nerven übertragen hat. Was die Krankheit selbst betrifft, so befällt sie nicht das Herz, sie ist vielmehr eine Qual in unserer Vorstellung. Was also, mein lieber Mitbruder, dich angreift, ist – möge Gott es so wollen – nicht deine Seele und die Qual deines Herzens, vielmehr – wie gesagt – ein Zustand (hal), der – um den Kampf fortzusetzen – infolge der menschlichen Natur auf die Nerven übertragen wurde und die Ursache ständiger Weiterentwicklung bildet.

Zweite Fragestellung

An verschiedenen Stellen der Risale-i Nur finden sich Antworten auf drei Fragen, die ein alter Hoca gestellt hatte. Wir wollen nun hier einen kurz zusammengefassten Hinweis geben. Er fragt: Muhyiddin Arabi schreibt in einem Brief an Fachru-d’Din Rasi: »Gott zu kennen ist etwas anderes, als von Seinem Dasein zu wissen.« Was meint er damit? Was ist der Sinn seiner Frage? Erstens: In der Einführung zum Zweiundzwanzigsten Wort, die du ihm vorgelesen hast, verweisen Vergleiche und Beispiele für den Unterschied zwischen einer wahrhaftigen Erkenntnis der Einheit Gottes (Tauhid) und einer nur scheinbaren Erkenntnis auf diesen Sinn, während das Zweite und Dritte Kapitel des Dreiunddreißigsten Wortes in den entsprechenden Abschnitten diesen Sinn näher erläutern. Zweitens: Muhyi-d’Din Arabi, in dessen Augen die Erläuterungen der führenden Gelehrten zu den Grundlagen des Glaubens und zur Theologischen Wissenschaft über die Grundpfeiler des Glaubens, die Existenz des Notwendig-Seienden und die Einheit Gottes (Tauhid) als nicht ausreichend erschienen, machte (diese Aussage) gegenüber Fahru-d’Din Rasi, einem der führenden Theologen. Eine mit Hilfe der Theologie erworbene Gotteserkenntnis verhilft in der Tat nicht zu einer vollkommenen Erkenntnis und dem absoluten Bewusstsein göttlicher Gegenwart. Wenn sie jedoch mit den Mitteln des Qur’an erfolgt, der in seiner Verkündigung ein Wunder ist, so vermittelt sie sowohl eine vollkommene Kenntnis und bewirkt zugleich auch das absolute Bewusstsein göttlicher Gegenwart.

kein Ton