Brief | Zweiundzwanzigster Brief | 364
(357-380)

Ja, wie kann denn überhaupt ein billig und gerecht denkender Mensch zugestehen, dass jemand auf eine Sache, die es nicht wert ist, dass man deswegen auch nur für einen Tag Feindschaft hegt, mit einem Jahr Hass und Feindseligkeit antwortet? Welches noch unverdorbene Gewissen hat für so etwas Raum? Du kannst in der Tat nicht deinem Mitbruder ganz und gar all das Übel zuschreiben, das dich durch ihn getroffen hat und ihn deswegen verurteilen. Denn:

Erstens: Die göttliche Bestimmung hat daran ihren Anteil. Nach Abzug dessen sollte man sich wegen dieses Anteils, den die göttliche Bestimmung und Zuteilung daran hat, zufrieden geben und es so annehmen.

Zweitens: Sodann sollte man den Anteil davon abziehen, den der Teufel und die eigene Begierde daran hat, und diesen Mann, anstatt ihm Feindschaft entgegenzubringen, vielmehr bedauern, weil er seiner eigenen Leidenschaft unterlag und sollte darauf warten, dass es ihm leid tut.

Drittens: Betrachte auch den Fehler, den du im eigenen Herzen hast und nicht siehst, oder nicht sehen willst und gestehe ihm seinen Anteil zu. Wenn du dann auf den noch verbliebenen kleinen Anteil mit Verzeihung und Vergebung und Großherzigkeit antwortest, was die schnellste und sicherste Art ist, deinen Gegner zu besiegen, so wirst du vor Schaden bewahrt bleiben und vor Ungerechtigkeit gerettet sein. Wolltest du jedoch stattdessen, gleich einem verrückten und betrunkenen Juwelier, der Glasscherben und Eisstückchen ankauft, als wären es Diamanten, in der Weise reagieren, dass du um irdischer Dinge willen, die unwichtig, bedeutungslos und vergänglich sind, deren Wert nur ein vorläufiger und vorübergehender ist und keine fünf Pfennig beträgt, immerwährenden Hass und beständige Feindschaft nährst, verbunden mit einer heftigen Wut, so als würdest du für immer in dieser Welt bleiben und ihr würdet ewig beieinander sein, so wäre das Trunkheit und Rausch und der hyperbolische Modus einer Ungerechtigkeit. Es wäre eine Art von Wahnsinn...

Wenn dir also dein Leben etwas wert ist, dann gib einer Feindschaft und dem Gedanken an Rache, der doch deinem persönlichen Leben dermaßen einen Schaden zufügt, in deinem Herzen keinen Raum. Sind aber (diese Gedanken) schon in dein Herz eingedrungen, so höre nicht auf sie. Hören wir stattdessen lieber, was Hafis Schirasi, der ein Auge für die Wahrheit hat, spricht:

»Nicht solch ein Ding ist die Welt, dass sie es wert wäre, sich um sie zu streiten.«
kein Ton