Brief | Zweiundzwanzigster Brief | 366
(357-380)

Wenn man sagt:

»Gegensätze in meiner Gemeinschaft sind eine Barmherzigkeit.«

lautet ein Hadith, und wo Gegensätze bestehen, ist es notwendig, Partei zu ergreifen. Zudem befreit die Krankheit der Parteilichkeit das einfache, unterdrückte Volk von dem Übel einer ungerechten herrschenden Klasse. Denn wenn die herrschende Klasse in einem Dorf oder in einer Stadt sich zusammenschließt, so kann sie das unterdrückte, einfache Volk ausbeuten. Wo es aber Parteien gibt, sucht der Unterdrückte Schutz bei einer von ihnen und rettet sich so. Außerdem bewirken die Gegensätze im Denken und die Widersprüche in den Anschauungen, dass sich die Wahrheit vollkommen klar herausstellt.

Antwort: Zur ersten Frage lässt sich sagen: Wenn in diesem Hadith von Gegensätzen die Rede ist, so ist damit ein fruchtbarer Gegensatz gemeint, d.h. jeder bemüht sich, den eigenen Weg zu verbessern und den eigenen Ideen zum Erfolg zu verhelfen. Er strebt nicht danach, den der anderen zu zerstören und zu vernichten, sondern ihn zu verbessern und zu vervollkommnen. Ein fruchtloser Gegensatz besteht aber darin, einander in egoistischer und feindseliger Absicht den Untergang zu bereiten. Das aber wird auch vom Standpunkt der Hadith verworfen. Denn die sich gegenseitig an die Kehle gehen, können nichts positives zustande bringen.

Zur zweiten Frage aber lässt sich sagen: Wäre eine Parteilichkeit im Namen der Gerechtigkeit, so könnte sie denen, die ihr Recht suchen, zum Schutzdach dienen. Doch unsere Parteigängerschaft heutigen Tages, wie sie nur selbstsüchtigen Seelen dient, ist ein Schutzdach für die Ungerechten und bildet einen Stützpunkt für sie. Denn käme ein Teufel, einen Mann in dessen einseitig subjektiver Stellungnahme zu unterstützen und ihm in seinen Gedanken behilflich zu sein und würde sich auf die Seite (dieses Mannes) stellen, so würde dieser für den Teufel um Barmherzigkeit beten. Käme aber stattdessen von gegnerischer Seite ein Mann gleich einem Engel, er würde ihm eine solche Ungerechtigkeit bezeigen, dass er ihn - Gott bewahre! - verfluchen würde.

Zur dritten Frage lässt sich nun sagen: Wenn ein Widerstreit in den Anschauungen im Namen der Gerechtigkeit ausgefochten wird, um der Wahrhaftigkeit willen entsteht, die Einheit zum Anlass und zum Ziel hat, dann besteht ein Gegensatz nur in den Mitteln. Dann wird in Wahrheit jede Ecke ausgeleuchtet. Das dient der Wahrhaftigkeit und der Gerechtigkeit. Ein Widerstreit in den Anschauungen aber, welcher in der Weise ausgetragen wird, dass er nur einseitig-subjektiver und tendenziöser Stellungnahme, der eigenen Selbstgefälligkeit und dem persönlichen Ehrgeiz dient, welcher auf Rechnung einer eigenwilligen, pharaonengleichen Seele geht, entzündet nicht den »Funken der Wahrheit«, sondern entfacht vielmehr die Flamme der Zwietracht.

kein Ton