Brief | Neunundzwanzigster Brief | 543
(528-621)

Während des Heiligen (Monats) Ramadan gelingt es einem jeden, vom König bis zum Ärmsten durch sein Verständnis des Wertes solcher Gnadengaben innere Dankbarkeit zu gewinnen.

Wenn er sodann, weil ja tagsüber das Essen verboten ist, sagt: »Diese Gaben sind nicht mein Eigentum. Ich bin nicht so frei, sie zu mir zu nehmen. Das heißt, sie sind Eigentum eines anderen und Sein Geschenk. Ich warte auf Seinen Befehl.« erkennt er das Geschenk als ein Geschenk und bringt so seine innere Dankbarkeit zum Ausdruck. Auf diese Weise wird das Fasten zu einem Schlüssel der Dankbarkeit, die in vielerlei Hinsicht die eigentliche Aufgabe des Menschen ist.

Der dritte Abschnitt: Was das Fasten hinsichtlich des Gemeinschaftslebens für den Menschen betrifft, so ist eine Weisheit unter vielen Weisheiten, folgende: Die Menschen sind, was ihren Lebensunterhalt betrifft, verschieden. Gott der Gerechte fordert in Anbetracht dieser Verschiedenheit die Reichen auf, den Armen zu helfen. Doch die Reichen können nur durch ihren Hunger während des (eigenen) Fastens den bedauernswerten, bitteren Zustand der Armen erspüren. Gäbe es kein Fasten, so gäbe es (statt dessen) viele selbstsüchtige Reiche, die nicht begreifen (idrak) können, wie weh Hunger und Armut tun können und wie vieler Liebe (shefqat) diejenigen bedürfen, (die darunter leiden).

In dieser Hinsicht bildet die Liebe zum Mitmenschen, so wie sie sich im menschlichen Wesen findet, die Grundlage wahrer Dankbarkeit. Wie auch immer ein Mensch sein mag, er wird immer einen anderen finden können, der in gewisser Hinsicht noch ärmer ist als er. Ihm gegenüber ist es seine Pflicht, ihm Mitleid (shefqat) zu erweisen.

Wenn er selbst noch nie dazu gezwungen war, Hunger zu leiden, kann er auch die Güte und Hilfe nicht aufbringen, zu der er allein schon aus Mitleid (shefqat) verpflichtet ist. Und wenn er es auch könnte, so wäre (seine Hilfe dennoch) unvollkommen, da er ja diesen Zustand (hal) nicht wirklich in seiner eigenen Seele (nefs) verspürt hat...

Vierter Abschnitt: Betrachten wir einmal das Fasten vom Standpunkt der Diätetik der Seele, so ist auch hier eine Weisheit unter vielen Weisheiten folgende: die Seele (nefs) möchte frei und unabhängig sein und versteht sich selbst auch so. Ja sie sehnt sich sogar nach einer, (wenn auch nur) erträumten Herrschaft und hält es geradezu für selbstverständlich, nach eigenem Gutdünken zu handeln. Sie denkt nicht ohne weiteres daran, sich in der grenzenlosen Gnade (Gottes) erziehen und durch Seine Gaben versorgen zu lassen. Hat sie überdies Macht und Reichtum (zusammengerafft) und ihre Gottvergessenheit ihr auch noch dazu verholfen, so reißt sie die Gnadengaben Gottes an sich, stiehlt sie wie ein Dieb und verschlingt sie wie ein Tier.

kein Ton