Brief | Neunundzwanzigster Brief | 544
(528-621)

Nun begreift aber im Heiligen (Monat) Ramadan ein jeder in seiner Seele, vom reichsten bis zum ärmsten, dass er nicht der Eigentümer ist, sondern selbst das Eigentum, dass er also nicht frei ist, sondern (Gottes) Diener und Anbeter. Erhält er keinen Befehl, so kann er noch nicht einmal die einfachsten und leichtesten Dinge tun. Wenn er noch nicht einmal seine Hand nach dem Wasser ausstrecken kann, bricht seine eingebildete Selbstherrlichkeit zusammen. Nun beginnt er in Dienst und Anbetung jene Dankbarkeit darzubringen, die seine ureigenste Aufgabe ist.

Fünfter Abschnitt: Hinsichtlich des Fastens im Heiligen (Monat) Ramadan ist, was die ethische Vervollkommnung der Seele und die Aufgabe ihrer Widersetzlichkeiten betrifft, eine von vielen Weisheiten folgende: Die menschliche Seele vergisst sich selbst in ihrer Gottvergessenheit (und weiß dann nicht mehr, wer sie ist). Sie verkennt leicht die unendliche Ohnmacht, die unsagbare Armut und die hochgradige Fehlerhaftigkeit ihres Wesens und will sie auch gar nicht sehen. Zudem denkt der Mensch ungern daran, wie schwach er ist, wie sehr er dem Verfall ausgesetzt ist, wie oft er vom Unglück verfolgt ist und dass er nur Fleisch ist über einem Skelett, das zerfällt und vermodert. Als hätte er einen Körper aus Stahl und wäre unsterblich, klammert er sich an diese Welt und stellt sich vor, er wäre ewig. Mit einer Gier und Habsucht, mit ungezügelter Liebe (muhabbet) und Leidenschaft stürzt er sich in die Welt. Er ist gefesselt von allen Dingen, die ihm Vorteile bringen und Genuss bereiten. Dabei vergisst er seinen Schöpfer, der ihn mit vollkommener Liebe (shefqat) versorgt. Auch das Fazit seines (diesseitigen) Lebens und das jenseitige Leben liegen nicht in seinem Blickfeld und er wälzt sich im Morast seiner Unmoral.

So lässt denn das Fasten im Heiligen (Monat) Ramadan alle, selbst die in tiefster Gottvergessenheit und die Starrköpfigsten ihre Schwäche, Ohnmacht und Armseligkeit erkennen. Der Hunger treibt sie, an ihren Magen zu denken und seine Bedürfnisse wahrzunehmen. Sie beginnen zu begreifen, in welch hohem Maße ihr Körper schwach und anfällig ist. Es wird ihnen klar, wie sehr sie des Mitleids und der Güte (shefqat) bedürfen. So beginnt (der Mensch) die pharaonengleiche Selbstherrlichkeit loszulassen und verspürt den Wunsch in Anbetracht der vollkommenen Ohnmacht und Armseligkeit an der Schwelle Gottes Zuflucht zu suchen und bereitet sich vor, mit dankbarem Herzen an der Pforte der Barmherzigkeit (rahmah) anzuklopfen, soweit nicht sein Herz in seiner Gottvergessenheit schon verdorben ist.

kein Ton