Brief | Neunundzwanzigster Brief | 590
(528-621)

So glomm denn ein Gefühl tiefster Kränkung und Beleidigung unter dem einfachen Volk und seinen Denkern und mündete in den oben erwähnten historischen Ereignissen.

Es hat jedoch niemand unter den armen, bedauernswerten Menschen und ihren Denkern das Recht, sich über die Religion Mohammeds mit dem Friede und Segen sei, den Islam und sein Gesetz (Schari’a) zu beschweren. Denn es verletzt sie nicht, sondern beschützt sie. Die islamische Geschichte liegt dafür allen offen. Von ein oder zwei Ereignissen abgesehen hat es im Islam kaum jemals einen innerislamischen Religionskrieg gegeben. Wohingegen sich die katholischen Länder und die Länder der Reformation ständig bekriegten.

Des Weiteren war der Islam schon immer der Zufluchtsort der einfachen Leute mehr denn als der der höheren Kreise. Durch die Verpflichtung zum Sekat und das Verbot von Zins und Wucher hat er die Oberschicht nicht zu Diktatoren der einfachen Leute werden lassen, sondern in gewisser Weise zu deren Dienern. So heißt es:

»Der Herr eines Volkes ist sein Diener.« »Der beste unter den Menschen ist der ihnen am hilfreichsten ist.«

Des Weiteren heißt es mit den Worten des Weisen Qur’an:

»Haben sie denn keinen Verstand.« (Sure 2, 44) »Warum achtet ihr nicht darauf?« (Sure 4, 82) »Warum denken sie nicht nach?« (Sure 6, 50)

und fordert so den Verstand mit heiligen Hinweisen zum Zeugen auf, verwarnt uns, wendet sich an unser Urteilsvermögen und regt zu Untersuchungen an. Dadurch gibt er den Leuten der Wissenschaft und den Leuten von Verstand eine besondere Stellung (maqam) im Glauben und eine eigene Bedeutung. Er lehnt nicht wie die (alten) christlichen Kirchen den Verstand ab, bringt seine Wissenschaftler nicht zum Schweigen und fordert von ihnen keine blinde Nachahmung.

Da sich nun Christentum und Islam in ihrer heutigen Form grundsätzlich voneinanderunterscheiden und in vielfacher Hinsicht ihre eigenen Wege gehen, nicht so aber das wahre Christentum, ergeben sich daraus die oben erwähnten Unterschiede. Der entscheidende Punkt aber ist:

Islam ist die wahre Religion der göttlichen Einheit (Tauhid), weshalb er Mittler und Ursachen (neben oder außer Gott) verwirft. Er zerbricht den Egoismus und errichtet (an seiner Statt) einen reinen Dienst und eine aufrechte Anbetung (ubudiyet). Er zerstört (jegliche Herrschaft) angefangen von der (ganz offensichtlichen) Herrschaft der Seele (nefs) bis hin zu (einer noch so versteckten) Herrschaft und weist sie zurück. Es ist aus diesem Grund, dass ein großer Mensch in gehobener Stellung, wenn er den Glauben vollständig annehmen möchte, unbedingt seinen Egoismus aufgeben muss. Wer von seinem Egoismus nicht ablassen kann, der wird von seiner Glaubenskraft und zum Teil von seinem Glauben selbst ablassen.

kein Ton