Brief | Neunundzwanzigster Brief | 602
(528-621)

Der zweite Weg beginnt in der Außenwelt, betrachtet die Widerspiegelung der Namen und Eigenschaften Gottes über dem großen Bereich Seines Gartens und dann betritt (auch hier der Reisende) schließlich den inneren Bereich (der Seele, nefs). Dort beobachtet er dann diese Lichter in einem kleineren Maßstab im Bereich seines Herzens und öffnet den kürzesten Weg zu ihnen. So sieht das Herz den Unwandelbaren (Samad) in einem Spiegel und vereinigt sich mit dem Ziel, das er gesucht hat. Wenn also Leute, die auf dem ersten Weg reisen, keinen Erfolg darin haben, ihre eigenwillige Seele zu töten, und wenn sie ihre Leidenschaften nicht aufgeben und das Ego zerbrechen können, so fallen sie aus dem Rang der Dankbarkeit auf die Stufe der Überheblichkeit und von der Stufe der Überheblichkeit hinunter auf die der Selbstgefälligkeit. Wenn eine solche Person eine Ergriffenheit erlebt, die aus ihrer Liebe (muhabbet) erwächst, und eine Art Rauschzustand, der aus dieser Ergriffenheit kommt, so ergeben sich für sie daraus so hochgesteckte Ansprüche, die bei weitem ihre Grenzen überschreiten, verbunden mit Äußerungen von höchster Ekstase, was sowohl ihr selbst Schaden zufügt, als auch zur Ursache eines solchen Schadens für andere wird. Wenn zum Beispiel ein Leutnant vor Begeisterung über seine eigene Kommandostellung stolz wird und schon sich selbst für einen Feldmarschall hält, und seinen kleinen Einflussbereich mit einem universellen verwechselt, so wird er zur Ursache einer Sonne, die in einem kleinen Spiegelchen erscheint und sich nun mit der Sonne verwechselt, die in gewisser Hinsicht durch einen Aspekt der Ähnlichkeit in all ihrem Glanz im Meeresspiegel sichtbar wird. In gleicher Weise gibt es unter den Leuten der Gottesfreundschaft viele, die sich für größer halten als andere, die in Wirklichkeit im Verhältnis eines Fasans zu einer Fliege größer sind als sie, die sich selbst auch in dieser Weise betrachten und fest davon überzeugt sind, dass sie recht haben. Ich habe selbst einmal jemanden gesehen, dessen Herz gerade eben erst erwacht war und der gerade eben erst ganz von Ferne in sich selbst das Geheimnis der Gottesfreundschaft verspürte und nun sich selbst für einen gewaltigen Pol (kutub) hielt und sich auch dementsprechend aufführte. Ich habe zu ihm gesagt: »Mein Bruder, so wie die Gesetze eines Königreichs vom ersten Minister bis zum letzten Abteilungsleiter verschiedene Formen annehmen und mal mehr oder weniger umfangreich sein können, so gibt es auch für die Pole und Gottesfreunde solche verschiedenartige Gebiete und Wahrnehmungsbereiche. Und jede Stufe (maqam) hat ihre eigenen Schattenseiten und viele verschiedene dunkle Bereiche. Du hast nun die gewaltige Erscheinungsform eines Kutub, entsprechend der eines Ministers gesehen. Und du hast diese Erscheinungsform von deinem eigenen Bereich aus, der dem eines Abteilungsleiters entspricht, wahrgenommen und dich dabei getäuscht. Was du gesehen hast, war zwar richtig, nur dein Urteil darüber war falsch. Für eine Fliege ist eine Tasse mit Wasser wie ein Swimmingpool.« Dieser Mann kam über meiner Antwort mit Gottes Hilfe zur Besinnung und wurde vor einem Abgrund gerettet.

kein Ton